Erhöhung der Ticketpreise im ÖPNV löst neue Protest-Wellen in Brasilien aus

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In Brasilien regt sich erneut Widerstand gegen die Preise im Öffentlichen Nahverkehr (Foto: Polyana Tidre)
Datum: 30. Januar 2015
Uhrzeit: 15:47 Uhr
Leserecho: 1 Kommentar
Autor: Polyana Tidre
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Ein Trommellärm ist derzeit bei einem Spaziergang durch die Straßen von Florianópolis, einer Stadt mittlerer Größe im Süden Brasiliens, zu hören. Nichts Ungewöhnliches für einen Nachmittag Mitte Januar, könnte man denken, da zu dieser Zeit die Proben für den Karneval stattfinden und deshalb viele Vereine in bunten Umzügen durch die Straßen ziehen. Allerdings zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass es hier diesmal nicht um Karneval geht.

Die Innenstadt von Florianópolis ist in diesen Tagen mit Menschen gefüllt, die nicht Samba tanzen und feiern, sondern protestieren. Und zwar erneut gegen die Erhöhung der Preise im ÖPNV, deren Einführung die Unternehmen schon für 2013 planten. Damals mussten sie allerdings ihre Pläne wieder begraben.

Die Widerstandsbewegung, die vor zwei Jahren durch kleine, vom MPL, „Movimento Passe Livre“ (Bewegung für kostenlosen Nahverkehr) organisierte Demonstrationen anfing, wuchs innerhalb weniger Wochen zu einer mächtigen Protestbewegung heran, und zwang nicht nur zu einem Rückzug der Ticketpreiserhöhung, sondern stellte weitere Forderungen. Die Brasilianer, die zu Hunderttausenden auf der Straße protestierten, verlangten unter anderem mehr Geld für die Schulen und Krankenhäuser statt für die Fußball-Weltmeisterschaft und mehr Transparenz in der Politik gegenüber den Korruptionsskandalen, die häufig Schlagzeilen machen.

Die jetzige Erhöhung wird in den meisten Städten in der Ferienperiode, zwischen Dezember und Januar, eingeführt. Auch in anderen Branchen werden in dieser Zeit die Preise für Dienstleistungen und Güter neu bestimmt. Die ÖPNV-Unternehmer begründen ihre Preiserhöhungen mit der allgemeinen Erhöhung der Betriebskosten, wie Sprit-Kosten oder der Arbeitskraft.

Demgegenüber wird dennoch eingewendet, die eingeführten Erhöhungen im ÖPNV seien in vielen Städten doppelt so hoch wie die Inflation. In Rio zum Beispiel wird das Einzelticket auf 13 Prozent erhöht und kostet ab sofort 3,40 Reais, knapp 1,20 Euro. Noch mehr als in Rio müssen die Verbraucher in São Paulo für Bus und Bahn bezahlen. In der größten Stadt Brasiliens, wo die Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die Demonstranten bei den letzten Protesten im Januar vorging, muss ein Arbeiter, der einen Mindestlohn verdient und am Tag zwei ÖNPV-Verbindungen nutzt, fast 30 Prozent seines Einkommens allein für öffentliche Transportmittel ausgeben.

Düstere Prognosen für das neue Jahr: Stagnierendes Wachstum und Erhöhung der Lebenshaltungskosten

Wie Alexandra Peixoto, 40, geht es vielen, die bei den jetzigen Demonstrationen teilnehmen, nicht nur um die Preiserhöhung des öffentlichen Verkehrs. Sie teilt die Hauptforderung des MPL nach dem Recht einer kostenlosen Nutzung des Nahverkehrs und nach einer Verstaatlichung des Verkehrsbetriebes. Im Moment befinden sich die Demonstranten allerdings in der Defensive. Auch in anderen Bereichen, etwa beim Strom und beim Sprit, müssen die Brasilianer mit steigenden Preisen rechnen.

Der Mindestlohn, wovon circa 40 Prozent der Bevölkerung leben muss und der zurzeit bei umgerechnet etwas mehr als 250 Euro liegt, wird von der Inflation gefressen. Fast die Hälfte davon wird bei vielen allein für die dringendsten Lebensmittel ausgegeben. Preiserhöhungen in den Bereichen Nahrungsmittel und Wohnungswesen bedeuten ebenfalls eine schwere Belastung im Haushalt.

Aber nicht nur vor der kontinuierlich wachsenden Verteuerung des Lebens, sondern auch vor der steigenden Zahl an Kündigungen müssen die Brasilianer im Jahr 2015 bangen.

Denn die Wirtschaftskrise trifft Brasilien schwer. Während das Land im Jahr 2010 7,5 Prozent Wirtschaftswachstum erreichte und damals als vielversprechendes Schwellenland gefeiert wurde, liegen die Einschätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) für dieses Jahr bei bescheidenen 0,3 Prozent, und damit noch unter dem Wert von 2014.

Ein weiteres Zeichen für die ökonomische Rezension, wie viele Volkswirte die heutige Lage in Brasilien bezeichnen, ist das Schrumpfen der Märkte. Die Investitionen haben 2014 einen Rückgang von 2,1 Prozent verzeichnet.

Große Unternehmen reagieren auf die schwierigen Zeiten mit dem Versuch, die Betriebskosten zu senken, etwa durch lay-off oder Entlassungen der Angestellten. In São Bernardo do Campo, in der industriestärksten Region Brasiliens, kündigte Mercedes Benz die Entlassung von 160 Arbeiter an. Auch Volkswagen teilt für sein Werk in São Bernardo, in dem 13.000 Arbeiter beschäftigt sind, die fristlose Entlassung von 800 Angestellten mit. Dies resultierte in einem Streik von zehn Tagen unter der Belegschaft, der erst nach dem Rückzug der Kündigungen beendet wurde.

Neue Entlassungsversuche werden aber erwartet. Die Spezialisten prognostizieren eine weitere Steigerung der Arbeitslosenzahlen zumindest für die nächsten drei Jahre. Bis 2016 sollen sie bei 7,3 Prozent liegen, was mehr als dem Durchschnitt in Südamerika entspricht.

Nicht nur das schwierige wirtschaftliche Szenario, aber auch der neue Korruptionsskandal des staatlichen Ölkonzerns Petrobras, trägt dazu bei, die Unzufriedenheit der Brasilianer zu steigern. Ebenfalls können die Kosten für die Olympischen Spiele in Rio 2016, die schon jetzt gigantische Ausmaße annehmen, ein zusätzlicher Grund für die Auslösung neuer Protest-Wellen werden.

Polyana Tidre ist 27 Jahre alt, stammt aus Brasilien und lebt derzeit in Berlin. Sie interessiert sich stark für Wirtschaft und Politik weltweit und berichtet für das brasilien Magazin unregelmäßig über Probleme und Herausforderungen in ihrem Heimatland.

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  1. 1
    yes, we can't

    Der Aufschwung Brasiliens war u. a. auch dem Geld zu verdanken, das die kapitalistischen Zentren auf den Markt gepumpt haben um den Krisenbrand zu löschen. Dieses Geld erweist sich aber als Brandbeschleuniger. Nachdem die Notenpresse angehalten worden ist, fließt das Geld wieder zurück, und die Lebenshaltungskosten steigen. Die BRICS-Party scheint vorbei.
    30% des Lohns aufwenden nur um zur Arbeit zu kommen? Da kann man ja lieber gleich zu Hause bleiben.

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