Das Hostel am Ende der Strasse

Datum: 17. März 2006
Uhrzeit: 04:56 Uhr
Ressorts: Tourismus
Leserecho: 0 Kommentare
Autor: Dietmar Lang
Sprachkurs Portugiesisch (Brasilianisch)

Besuch in Rio de Janeiro, November 2005

Bernardo schaut direkt auf, als ich mit meinem Trolley den Vorraum betrete. Er mustert mich kurz von oben bis unten und versucht seine Verwunderung zu verbergen. „Hallo, ich bin Bernardo!“ begrüsst er mich in sehr guten englisch. Er ist dunkelhäutig mit weit abstehendem Haar und sieht aus, als wäre er gerade aus Jamaika eingeflogen worden. Ich frage mich, wer das grössere Unikum darstellt. Ich, wie ein Geschäftsreisender gekleidet mit langer Hose und Hemd samt dazugehörigem Trolley an der Hand, oder er, leger gekleidet, unrasiert und anscheinend das Begrüssungskomitee für unerwartete Gäste des kleinen Hostals mitten in Rio de Janeiro, für welches er arbeitet.

So stehen wir uns im „Wohnzimmer“ des El Misti gegenüber. Gefunden habe ich das Hostal im Internet. Die zentrale Lage im Stadtteil Botafogo, moderate Preise und die Aussicht auf viele neue Kontakte haben mich dorthin geführt. „Nein, ich habe nicht reserviert“ antworte ich ebenfalls auf englisch. „Aber ich würde gerne hier schlafen“ füge ich auf portugiesisch hinzu. Seine Mine, die sich kurz vorher noch verdunkelt hatte, hellt sich auf. „Du bist Brasilianer, warum hast du das nicht gleich gesagt, ich werde schon was für dich finden – Einzelzimmer oder Mehrbett?“ lacht er und wendet sich seinem Computer zu. „Ein Bett in einem Gemeinschaftszimmer ist ok, erkläre ich ihm währendessen, „und im Übrigen bin ich Deutscher, lebe aber hier in Brasilien.“ „Das kommt doch dann auf das gleiche raus“ grinst er und will mir mein Zimmer zeigen.

Er lässt es sich nicht nehmen, den schweren Trolley die Treppe heraufzuwuchten und mir mein Bett in einem 6er-Zimmer zu präsentieren. Geschäftsmässig professionell erläutert er mir die wenigen Regeln, die es zu beachten gibt, zeigt mir die Gemeinschaftsküche, die Bäder und gibt mir die Bettwäsche heraus. Das ganze Hostal scheint sehr gemütlich aufgeteilt zu sein. Auf zwei Etagen können bis zu 60 Personen untergebracht werden. Dafür stehen Einzel- und Doppelzimmer, sowie 6-Bett- und 9-Bett-Zimmer zur Verfügung. Und obwohl noch Nebensaison ist, scheint das Hostal gut belegt zu sein. Die Betten sind massiv, der Gemeinschaftsraum mit mehreren Sofas ausgestattet, es gibt das übliche, kleine Bücherregal, das Schachbrett und das Infoboard. Darauf finden sich unzählige Möglichkeiten, die Stadt zu erkunden. Vom Segelfliegen bis zur Favela-Tour, von Ausflügen an einsame Strände bis zum Steilwand-Klettern, das El Misti hat für jeden Geschmack, jeden Geldbeutel und jede Tageszeit etwas anzubieten.

Und eben auch Bernardo. Ich betrachte ihn mir nun etwas genauer. Im Dunkeln vor einer Favela würde ich einen riesigen Bogen um ihn machen. Aber nicht hier im El Misti. Er scherzt mit den Gästen, springt automatisch von englisch auf portugiesisch und dann wiederum auf spanisch um, und sogar ein paar Brocken französisch lassen sich seinem immer aufmerksamen und freundlichem Gesicht entlocken. Er holt Bier und zaubert Caipirinhas, sucht Bettwäsche oder rechnet mit den Gästen ab. Er scheint die gute Seele im Hause zu sein, und keiner seiner Kollegen kommt in Sachen Symphatie irgendwie an in heran, obwohl alle überaus freundlich und aufmerksam sind. Und während meines Aufenthaltes erhalte ich auch ab und zu sogar auf eine speziellere Frage die Antwort: „Kannst du noch kurz warten bis Bernardo kommt? Er weiss es am besten!“

Im Wohnzimmer der Nationen

So sitze ich also unten im „Wohnzimmer“ und beobachte, wie langsam die anderen Gäste eintreffen. Japaner, Koreaner, Kanadier, Amerikaner, Deutsche, Österreicher, Australier, Dänen, Norweger, Engländer, Spanier, Argentinier, Brasilianer und sogar einen Peruaner lerne ich in diesen acht Tagen dort kennen. Und dort zu sitzen und diesen verschiedenen Nationen und Kulturen zuzusehen, ist äussert lehrreich. Und wie von selbst kommt man mit diesen aufgeschlossenen, meist jungen Menschen ins Gespräch und erfährt etwas über die Reisepläne, das Erlebte und die Heimat des Einzelnen.

Da ist der laute Kanadier, der immer wieder von seinen Frauengeschichten erzählt und nie vor dem Morgengrauen ins Bett kommt und dabei das halbe Hostal aufweckt. Oder die beiden Südkoreanerinnen, die morgens und abends ihren Reiseführer studieren, als ob sie sich auf eine Diplomarbeit vorbereiten. Da muss man unwillkürlich über den Argentinier lachen, der höchstwahrscheinlich jeden Abend mehr Geld für das stundenlange Surfen im Internet ausgibt als die Übernachtung kostet. Man beobachtet das englische Pärchen, welches jeden Abend gemeinsam in der Küche ihr Abendessen zubereitet und Schwierigkeiten mit den fremden Gewürzbezeichnungen hat. Oder die jungen Norweger, die schwankend in einer fremden Sprache lallend Einlass begehren. Es ist ein bunter Mix verschiedenster Sprachfetzen und Eigenarten der Kurzzeitbewohner. Und da man sich in den Räumen mit den Stockbetten schlecht aufhalten kann und dort auch Rauchverbot herrscht, sitzen alle im Gemeinschaftsraum zusammen. Da wird sich für die nächste Favela-Funk-Party verabredet, da will man gemeinsam die Strände erkunden oder einfach nur nebenan zusammen essen gehen.

Und mittendrin bewegt sich unauffällig die Crew des kleinen Hostals. Fünf junge Leute, keiner älter als dreissig wechseln sich ab und betreuen 24 Stunden die kleinen und grossen Probleme der Gäste. Sie kennen alle Sehenswürdigkeiten, kennen alle Busse, die guten und schlechten Zonen, haben Kontakte in allen Ecken der Stadt und können eigentlich alles für kleines Geld organisieren. Und sprechen natürlich fliessend portugiesisch, englisch und spanisch. Dezent schalten sie sich selbstständig in Gespräche ein und geben Tips oder Warnungen. Davon könnten sich einige grosse Hotels eine Scheibe abschneiden.

„Wer Gras raucht, fliegt raus!“

Inzwischen ist auch der Chef angekommen. Im Muskelshirt und kurzen Hosen, tätowiert und mit einer Dose Bier in der Hand steht er inmitten der Gäste. Wäre sein Shirt nicht mit dem Emblem des Hauses bedruckt gewesen, hätte ich ihn für einen Gast gehalten. Er sieht mich und mein für ihn fremdes Gesicht und kommt direkt auf mich zu. „Hallo, ich bin Gérman“ begrüsst er mich auf englisch. Gérman ist Argentinier und ihm gehört das Hostal. „Ja, die Arbeit macht sehr viel Spaß, Probleme gibt es hier eigentlich nie. Dann und wann rauchen die Leute nachts hier Gras, dann fliegen sie direkt raus. Tja, und lauter kanns halt auch mal werden“ fügt er lachend hinzu und schreit nach einem weiteren Bier quer durch den Raum. Er freue sich schon wieder auf die Hochsaison zu Sylvester und Carneval. Nicht nur dass die Preise in astronomische Höhen klettern, auch die Stadt sei so voll Trubel und nicht so langweilig wie derzeit. Ein Stockbett inklusive Frühstücksbuffet, wie ich es derzeit für 20 Real (ca. 8 Euro) die Nacht bekomme, kostet dann schon bis zu 100 Real (ca. 40 Euro). Aber dafür wäre halt zu dieser Zeit eine Dauerparty inklusive.

An allen dieser acht Tage erlebe ich im Gemeinschaftsraum dieselbe fröhliche Stimmung. Nur die Gesichter ändern sich. Gesichter, an die man sich nach ein paar Tagen bereits gewöhnt hat, sind auf einmal verschwunden und dafür sitzen neue an deren Platz. Und das Spiel beginnt von vorne. Durchschnittlich, so erklärt Bernardo mir eines abends, bleiben die Backpacker zwei bis drei Tage. Dann ziehen sie wieder weiter. Es sei auch besser, denn so könne man keine grossen Freundschaften aufbauen die den Abschied schwerfallen lassen würden. „Und ausserdem gibt es weniger Probleme mit den Mädels“ zwinkert er mir zu. Aber jetzt hätte er Feierabend und nun ginge die Party richtig los. Und wie auf ein geheimes Kommando erhebt sich die Hälfte der Anwesenden und folgt ihm in die laue Nacht. „Es gibt immer irgendwo was zu feiern“ hat er mir noch kurz vorher erklärt, und da nehme ich gerne auch unsere Gäste mit. Und der österreichische Student am Nachbartisch ergänzt lachend auf Deutsch: „Wir sind jung und verbrauchen das Geld!“


Hostal El Misti

Verabschiedung auf brasilianisch

Und so vergeht meine Zeit in Rio wie im Flug. Tagsüber bin ich auf den Strassen der Sambametropole unterwegs, abends geniesse ich die Atmosphäre des Hostals. Oder ich sitze draussen auf dem Bürgersteig und lasse mir mit anderen Gästen ein kaltes Bier schmecken. Der Lärm der Stadt dringt kaum die kleine abgesperrte Sackgasse herauf und man kann es sich kaum vorstellen, dass nur 100m weiter die grösste Nord-Süd-Verbindung Rios vorbeiführt. Sechs Fahrspuren in jede Richtungen sind vollgestopft mit Bussen, Taxen, Autos und Lieferwagen. Der kleine sichtbare Ausschnitt dieser Hauptstrasse lässt erahnen, welche Hektik dort herrscht. Man sieht Menschen in der Ferne vorübereilen und scheint davon unberührt zu sein. Nur wenn man selbst nach vorne geht, um aus dem Schatten der Hochhausschlucht auf die breite Promenade einzuschwenken, ahnt man auf den letzten Metern bereits die Grossstadt. Und dann fühlt man sich, als hätte man eine andere Welt betreten. Man ist wieder mitten in Rio. In der Heimat von Gérman, Bernardo und seinen Kollegen. In der Heimat dieser weltoffenen Menschen, die einen freundlich begrüssen und mit Umarmungen und den besten Wünschen wieder verabschieden. Sie haben es geschafft, dass man sich in dieser bescheidenen Unterkunft wohlfühlt.

Denn wenn man den ganzen Tag das pulsierende Leben Rio de Janeiros gespürt, geschmeckt und gerochen hat, wenn man müde ist von den unzähligen Eindrücken dieser faszinierenden Stadt, und wenn man nur noch die Füsse ausstrecken und den Tag langsam ausklingen lassen möchte, dann wünscht man sich von einer Sekunde auf die andere zurück ins El Misti, in dieses kleine, freundliche Hostal am Ende der Strasse.

Die Homepage des Hotels: http://www.elmistihostel.com

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