„Die Leute haben keinen Frieden in Rio. Die Gewalt ist riesig – es muss irgendetwas unternommen werden.“ Die Frau, die dies gesagt hat, möchte lieber unerkannt bleiben. Am gestrigen Mittwoch hat eine ‚verirrte Kugel‘ eine Fensterscheibe ihres Apartments im achten Stock eines Hochhauses im Stadtteil Copacabana in Rio de Janeiro getroffen. In dem betroffenen Zimmer lebt ihre 94-jährige Mutter, die jedoch nicht verletzt wurde. Woher der Schuss kam, ist völlig unklar. Von dem Fenster aus kann man andere Hochhäuser und verschiedene Waldflächen sehen.
Bereits vergangene Woche ereignete sich ein ähnlicher Vorfall im Stadtteil Leblon, ebenfalls im Süden Rio de Janeiros. Auch hier traf eine Kugel ein Apartment in einem Hochhaus. Das Zimmer wurde zum Tatzeitpunkt jedoch renoviert und war unbewohnt. Handwerker fanden das Projektil, als sie morgens zur Arbeit kamen. Auch hier ist die Quelle des Schusses unbekannt.
In Leblon ereignete sich Anfang Dezember jedoch bereits eine Tragödie, als der 12-jährige Hugo Ronca Cavalcanti beim Fussballspielen in einem Club in Leblon durch eine Kugel am Kopf getroffen wurde und im Krankenhaus seinen Verletzungen erlag. Täter und Herkunft des Schusses waren bislang nicht zu ermitteln. Die Polizei konnte aufgrund des aus dem Kopf herausoperierten Projektils bislang lediglich feststellen, das eine Waffe Kaliber 45 verwendet wurde und vermutlich in einer Favela im Umkreis des Clubs abgefeuert wurde.
Die Gewalt und das Risiko lässt sich daher nicht mehr auf die Brennpunkte der Stadt reduzieren. Auch in geschlossenen Bereichen und in der eigenen Wohnung ist man mittlerweile nicht mehr sicher. Und in solchen Fällen nützt auch die abgesicherteste Wohnung mit Alarmanlage oder Freizeitclub mit massiven Wachpersonal nichts mehr. Anscheinend kann man in Rio de Janeiro nur noch in bunkerähnlichen Bauten mit schusssicherem Glas gefahrlos leben.
Auf der offenen Strasse fallen die Schussopfer wie die Fliegen. Ob wie zu Neujahr, als gleich sechs Personen am Strand der Copacabana durch ‚verirrte Kugeln‘ getroffen wurden oder der Vorfall vor einigen Monaten, wo ein Mann an einer Tankstelle tödlich getroffen wurde – zwei Kilometer Luftlinie von einer höher gelegenen Favela entfernt: in keiner anderen Stadt in Brasilien ist die Gefahr so gross, selbst beim Einkaufen Opfer einer Schussverletzung zu werden wie in der brasilianischen Tourismusmetropole Nr. 1. Da nützt es auch nichts schnell von der Arbeit nach Hause zu fahren – die Gefahr, von einer Kugel getroffen zu werden, lauert auch auf den Schnellstrassen der Stadt.