Brasilien kann auch weiterhin keine Erfolge im Kampf gegen die allgegenwärtige und kontinuierlich ansteigende Kriminalität im Land vorweisen. Wie aus dem jüngsten Jahrbuch für öffentliche Sicherheit hervorgeht, wurden im größten Land Südamerikas im vergangenen Jahr 53.646 Tote durch Gewaltverbrechen registriert. Dies sind 1,1 Prozent mehr als 2012, wo 53.054 Opfer durch Mord, Totschlag oder schwerer Körperverletzung mit Todesfolge gezählt wurden. Als einen Zustand „schlimmer als der Krieg“ beschreibt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International die momentane Lage im Land.
Die von der Nichtregierungsorganisation „Forum für öffentliche Sicherheit“ zusammengetragene und jährlich herausgegebene Studie gilt in Regierungskreisen mehr als unbequem und wird daher von Politikern fast immer totgeschwiegen. Nur selten hört man aus Brasília Forderungen für mehr Maßnahmen zur Eindämmung der Gewalt. Auch wenn angeblich immer mehr Geld in den Polizeiapparat gesteckt wird – laut der Studie sind es mit 258 Milliarden Reais (ca. 80 Mrd. Euro) gut 5,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes – lassen sich in den Statistiken keine Erfolge ablesen. So dürfte auch in diesem Jahr alle zehn Minuten ein Mensch in Brasilien gewaltsam ums Leben kommen. Und dieser ist meist jung, arm, schwarz und stirbt immer häufiger durch eine Kugel der Polizei.
Die Sicherheitsbehörden im Land des Samba gelten in weiten Bereichen als übermäßig brutal und korrupt. Ihnen eilt zudem der Ruf voraus, mittlerweile fast immer nach dem Motto „zuerst schießen, dann fragen“ vorzugehen. 1.770 Polizisten wurden in den letzen fünf Jahren getötet, Dreiviertel davon bei gezielten Exekutionen außerhalb des Dienstes. Der Finger am Abzug sitzt dementsprechend locker, sei es aufgrund von Rache oder Angst ums eigene Leben. Untersuchungen haben ergeben, dass Brasiliens Polizisten zwischen 2009 und 2013 fast 11.200 Personen erschossen haben. Das sind sechs Stück am Tag, meist aufgrund von angeblichem Widerstand bei der Verhaftung oder beim Fluchtversuch. In den USA fielen mit 11.090 fast ebenso viele Menschen den Beamten zum Opfer – allerdings in den letzten drei Jahrzehnten zusammen.
Aber auch bei Verhaftungen sind Brasiliens Sicherheitskräfte stets eifrig, selbst bei kleinen Delikten droht oft ein langer Aufenthalt in den völlig überfüllten Haftanstalten. Derzeit fristen 574.207 Menschen in Brasiliens Gefängnissen unter teilweise menschenunwürdigen Zuständen ihr Dasein. Mit 49 Prozent sitzt gut die Hälfte der Häftlinge aufgrund von Eigentumsdelikten ein, 26 Prozent verbüßen eine Strafe wegen Drogendelikten und 12 Prozent wurden wegen Gewaltverbrechen verurteilt. 215.639 oder 40,1 Prozent aller Häftlinge befinden sich allerdings noch in Untersuchungshaft und warten teilweise Jahre auf ihre Verhandlung und ein Urteil. Hinzu kommen vermutlich weitere zehntausende Häftlinge in den Polizeistationen in den über 5.500 Städten und Gemeinden des Landes, die von der Statistik nicht erfasst werden.
Dabei hat man gerade in den Millionenmetropolen des Landes große Chancen, den Strafverfolgungsbehörden zu entkommen. Seit Jahren ist bekannt, dass nur ein Bruchteil der Morde tatsächlich aufgeklärt wird, neun von zehn Tätern kommen regelmäßig ohne Strafe davon. Dieses Wissen, die leichte Verfügbarkeit von Schusswaffen aller Art und die in weiten Teilen der Gesellschaft bestehende „Wertlosigkeit“ menschlichen Lebens durch mangelnde Bildung und Perspektivlosigkeit dürften wichtige Faktoren sein, welche die erschreckend hohe Zahl von Tötungsdelikten regelrecht provozieren. Experten weltweit sehen daher seit Jahren die Verantwortung teilweise weniger bei den Tätern als bei der brasilianischen Regierung, die über Jahrzehnte bei der Entstehung der unzähligen Favelas im Land und der damit verbundenen sozialen Brennpunkte absichtlich weggesehen hat.
Betrachtet man sich die jüngsten Zahlen der Gewaltverbrechen im internationalen Vergleich, hängt das Schwellenland Brasilien schon seit Jahren selbst Kriegsgebiete locker ab. So kamen im Irak im Jahr 2013 laut der NGO „Iraq Body Index“ mit 9.742 deutlich weniger Menschen ums Leben. Und auch das von Gewalt geschüttelte Mexiko liegt nach dortigen Regierungsangaben mit 30.632 Toten deutlich zurück. In Brasilien starben im vergangenen Jahr statistisch 25,2 Menschen je 100.000 Einwohner einen gewaltsamen Tod. In Deutschland waren es im gleichen Zeitraum laut der Polizeilichen Kriminalstatistik 2013 in Summe 585 oder 0,7 Personen je 100.000 Einwohner. Damit beträgt die Mordrate in Brasilien derzeit das 36-fache von jener in der Bundesrepublik.