Polizei unter Verdacht: Zivilbeamte sollen Demonstrationen absichtlich anheizen

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Datum: 26. Juli 2013
Uhrzeit: 21:39 Uhr
Ressorts: Panorama
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Autor: Dietmar Lang
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Nach den letzten gewalttätigen Ausschreitungen vom vergangenen Montag in Rio de Janeiro geraten die Sicherheitsorgane der Millionenmetropole immer stärker unter Druck. Ihnen wird vorgeworfen, die ohnehin stets angespannte Lage bei den Massenprotesten gegen Korruption und Vetternwirtschaft durch Beamte in Zivil absichtlich anzuheizen, um später das massive Vorgehen gegen die Protestler zu rechtfertigen. Zudem scheint in den Reihen der Verantwortlichen der eingesetzten Militärpolizei, Zivilpolizei und Nationalgarde das Wort „Deeskalation“ nicht zu existieren.

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Wie in den sozialen Netzwerken veröffentlichte Videoaufnahmen inzwischen nahelegen, warten die schwerbewaffneten Spezialeinheiten nur auf eine Gelegenheit, rigoros gegen die Demonstranten vorzugehen. Dabei wird dann weder zwischen gewaltbereiten und friedlichen Teilnehmern unterschieden, auch die Presse wird nun immer häufiger Opfer brutal vorgehender Elitepolizisten. Ziel scheint die komplette Zerstreuung der meist mehreren tausend Teilnehmern zu sein, von denen bis auf wenige Einzeltäter in der Regel allesamt friedlich für ihre angestrebten Ziele auf die Straße gehen.

Als am Montagabend (22.) Staatspräsidentin Dilma Rouseff im Gouverneurspalast von Rio de Janeiro im Stadtteil Laranjeiras Papst Franziskus vor 650 geladenen Gästen offiziell begrüsste, demonstrierten rund 1.500 Menschen unweit des Gebäudes gegen Rios Gouverneur Sérgio Cabral, dessen Popularität inzwischen ein historisches Tief erreicht hat. Alles verlief friedlich, bis plötzlich ein Molotow-Cocktail in Richtung Polizeiabsperrung flog. Derjenige, der ihn geworfen haben soll, wurde schnell dingfest gemacht. Als Beweis wurde ein Rucksack präsentiert, in denen sich noch zahlreiche selbstgebastelte Brandsätze befanden. Doch Fotos und Videos zeigen, dass der Verdächtige zuvor gar keinen Rucksack bei sich trug. Zudem soll er 700 Meter von Tatort entfernt entdeckt worden sein.

Stattdessen konnte ein Beamter der berüchtigten und für den Kampf gegen die Drogengangs der Stadt bekannte BOPE-Einheit identifiziert werden, der sich just zum Zeitpunkt der ersten Attacke mit einem identisch aussehenden Rucksack in vorderster Linie der Demonstranten aufhielt. Auf späteren Aufnahmen hatte er den Rucksack jedoch nicht mehr bei sich. Ob sich darin allerdings die Molotow-Cocktails befanden, ist unklar. Ebenso unbewiesen ist bislang, ob tatsächlich ein Polizist den Brandsatz geworfen hat oder jemanden dazu angestiftet hat. Unbestritten ist mittlerweile allerdings, dass die Beamten in Zivil nicht nur „von innen heraus die Demonstranten observieren“, wie ein Polizeisprecher den fragwürdigen Einsatz am Tag darauf definierte.

Für Teilnehmer, Presse und unabhängige Medien wird es allerdings immer schwerer, die Repressalien der Einsatzkräfte zu dokumentieren. Handys und Kameras werden kurzerhand beschlagnahmt, ein Journalist wurde sogar verhaftet, als er lediglich die Demonstration filmte. Ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP wurde zudem brutal niedergeschlagen, obwohl er sich zuvor als Pressevertreter ausgewiesen hatte. Bis an die Zähne bewaffnete Polizisten auf Motorrädern trieben zudem erneut Teilnehmer der Proteste wie Tiere durch die Straßen und oftmals waren vor lauter Tränengaswolken ganze Straßenzüge nicht mehr einsehbar.

Gouverneur Cabral, von dem am Montag im Rahmen der Proteste auch eine Stoffpuppe verbrannt wurde, gab sich der Vorfälle ahnungslos. Er wisse nichts davon, dass Zivilbeamte sich unter die Demonstranten mischten, die Koordinierung der Einsätze sei Aufgabe der verantwortlichen Sicherheitsorgane. Stattdessen verwies er auf die erfolgreiche Verringerung der Kriminalitätsrate in der Millionenmetropole unter seiner Regierung.

Dass die Polizei zumindest einmal sogar eine strikte Order hatte, Eskalationen zu dulden, war bereits vorher auf einer anderen Pressekonferenz bekannt geworden. Bei einer Demonstration im Nobelstadtteil Leblon vor der Privatwohnung des Gouverneurs hatte die Polizei seelenruhig die Randalierer gewähren lassen. Wie ein hoher Polizeibeamter einräumte, sollte dadurch die Rechtfertigung geschaffen werden, das nächste Mal umso härter gegen die Protestler vorgehen zu können. Diese klaren Worte überraschten selbst den anwesenden Pressesprecher, der das Gespräch danach abrupt abbrach.

Auch die brasilianische Anwaltsvereinigung OAB kritisiert seit Beginn der Massenproteste Anfang Juni immer wieder das harte und ihrer Meinung nach oft auch nicht gesetzmäßige Vorgehen der Sicherheitskräfte. Mittlerweile begleiten Anwälte die Demonstrationen oder warten bereits an den in der Nähe des Veranstaltungsortes gelegenen Polizeidienststellen, um Verhafteten sofort rechtlichen Beistand zukommen zu lassen. Dabei konnten in den vergangenen Wochen schon mehrere Fälle irregulärer Festnahmen und übermässiger Polizeigewalt dokumentiert werden.

Die Protestbewegungen vergleichen mittlerweile das harte Vorgehen der Einsatzkräfte und der damit verbundene massive Einsatz von Schlagstöcken, Tränengas, Pfefferspray, Gummigeschossen und Wasserwerfern mit den Zeiten der brasilianischen Militärdiktatur. Wie vor gut 40 Jahren beschneide der Staatsapparat ohne Grund erneut die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit, wie damals gebe es willkürliche Verhaftungen. Für das Wochenende wird daher erneut mit noch größeren Protesten in Rio de Janeiro, aber auch in der Megacity São Paulo gerechnet.

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