Brasilien: Soziale Proteste setzen Regierung immer stärker unter Druck

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Datum: 17. Juni 2013
Uhrzeit: 02:03 Uhr
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Autor: Dietmar Lang
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Es war ein Spektakel der Extraklasse: die Eröffnung des FIFA-Konföderationenpokals 2013 in Brasiliens Hauptstadt Brasília. 67.423 Zuschauer sahen am Samstagnachmittag Ortszeit den 3:0 Erfolg ihrer Nationalmannschaft in einem brandneuen Fußballtempel, etwas weniger als die Hälfte die emotionale Eröffnungsfeier zuvor. Den Organisatoren sprachen sie anschließend fast durchweg Lob aus. Doch die Pfiffe und Buh-Rufe bei der offiziellen Eröffnung der Mini-WM gegenüber FIFA-Präsident Joseph Blatter und Brasiliens Staatspräsidentin Dilma Rousseff zeigen auf,  das in der Öffentlichkeit bei aller Begeisterung und Leidenschaft für das runde Leder durchaus Vorbehalte gegen den Megaevent bestehen.

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Ob sich solche Vorfälle im Laufe des Turniers wiederholen, bleibt abzuwarten. Spätestens beim Finale in Rio de Janeiro dürften Blatter und Rousseff wieder nebeneinander auf der Tribüne stehen. Die Medien in Brasilien gehen daher derzeit intensiv der Frage nach,  welchem Umstand die Ablehnung der Zuschauer zu verdanken ist. Und haben dabei ihre ganz eigenen Theorien. Bringt man diese jedoch alle unter einen gemeinsamen Nenner, ergibt sich nur eine Antwort: Geld!

Fussball-WM und Olympiade verschlingen Milliardenbeträge

Die Menschen im Land sind nicht ohne Grund unzufrieden. Die Vorbereitungen für die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und die Olympiade 2016 verschlingen Milliarden, in anderen Sektoren des öffentlichen Lebens hingegen herrscht scheinbar ein von der Regierung angeordneter Investitionsstopp. Es fehlt fast überall an Schulen, Krankenhäusern, einem vernünftigen Nahverkehrssystem und bezahlbarem Wohnraum. Zudem wird das Leben im größten Land Südamerikas stets teurer, die jährlichen Erhöhungen des Mindestlohns können da nicht mithalten. “Alle die behaupten, die Inflation Brasiliens wäre ausser Kontrolle, sind Terroristen” so Rousseff am Freitag.

All dies versetzt immer mehr Brasilianer in Wut. Vor allem unter Studenten hatte sich frühzeitig ein Zirkel gebildet, der den Protest auf die Strasse brachte. Wie in São Paulo, wo sich bereits Zehntausende organisiert haben. Hier war eine angekündigte Fahrpreiserhöhung von 20 Centavos (ca. 8 Cent) der bekannte Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte. Der höhere Ticketpreis mag Auslöser für die Massenproteste gewesen sein, aber keinesfalls der einzige Grund. Das bestätigen auch die jüngsten Demonstrationen vor dem Nationalstadion in Brasília. Landesweit wird inzwischen für ein besseres Bildungssystem, eine flächendeckende Gesundheitsversorgung, einen bezahlbaren ÖPNV und mehr öffentliche Sicherheit demonstriert.

Jahrelang aufgestauter Frust kommt zum Vorschein

Nachdem die Regierung ihren zahlreichen Versprechungen keine sichtbaren Taten folgen liess sondern maximal punktuelle Vorzeigeprojekte initiierte, scheint der sich jahrelang in den Menschen aufgestaute Frust in den anhaltenden Protesten endlich ein passendes Ventil gefunden zu haben. Und nachdem in Säo Paulo eine friedliche Demonstration wie zu Zeiten der Diktatur von der Polizei brutal niedergeknüppelt wurde, schliessen sich nun immer mehr Menschen aller sozialer Schichten der Bewegung an. Das brasilianische Volk will nicht mehr Stillhalten.

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Die Mitglieder der Protestbewegung nennen sich „Indignados“ – die „Empörten“. Sie beklagen die Verschwendungen von Steuergeldern für Millionengräber wie unsinnige Stadionneubauten oder Hochgeschwindigkeitszüge, die von der Regierung als notwendige Infrastrukturmassnahmen verkauft werden. Sie fordern ein Ende der anhaltenden Vetternwirtschaft und Korruption, die immer wieder von Journalisten aufgedeckt wird. Sie bestehen auf die Einhaltung der Wahlversprechen und damit eine bessere Zukunft für die kommenden Generationen. Das ist neu in Brasilien und scheint die politische Kaste in einen Schock-Zustand zu versetzen.

Noch vor zehn Jahren hätte das Volk all dies geschluckt und lächelnd wenn auch machtlos mit den Schultern gezuckt. Niemand wäre auf die Strasse gegangen. Nun ist ein neue Generation in Brasilien herangewachsen und hat sich emanzipiert. Und diese lässt sich weder von Tränengas noch von Gummigeschossen oder Wasserwerfern davon abhalten, lautstark ihre Meinung zu äussern.

Internationale Medien beobachten rüdes Vorgehen der Polizei

Die Pfiffe im Stadion von Brasília dürfen damit durchaus auch als Solidaritätsbekundung mit den Demonstranten verstanden werden. Diese wurden in Brasília von Spezialeinheiten während des Spiels der brasilianischen Nationalelf gegen Japan vom Stadion weggetrieben. Anders als in São Paulo geschah dies jedoch unter deutlich höherer und vor allem internationaler Medienpräsenz. Und diese konnte dabei zusehen, mit welch übermässiger Härte die berittenen Einsatzkräfte gegen die Regierungskritiker vorgingen.

Daher war es nur zu erwarten, dass es am Sonntagnachmittag in Rio de Janeiro vor dem Spiel zwischen Mexiko und Italien im Maracanã-Stadion ebenfalls zu Protesten kommen würde. Der Kommandant der gepanzerten und bis zu den Zähnen bewaffneten Spezialeinheiten ordnete in Hinblick auf „die Einhaltung eines ordentlichen Spielverlaufs“ dann auch an, wie in anderen Städten ebenfalls Pfefferspray, Tränengas und Gummigeschosse gegen die Demonstranten einzusetzen. Auf deren Seite gab es zahlreiche Verletzte, und es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis Schlimmeres passiert.

Die Regierung in Brasília gerät durch die anhaltenden Proteste immer stärker unter Druck und macht derzeit nur gute Miene zum bösen Spiel und hofft, dass sich das Problem von selbst auflöst. Sollte es aber tatsächlich den ganzen Konföderationenpokal über Demonstrationen vor den Stadien geben, wirft dies ein denkbar schlechtes Licht auf die Fusball-Weltmeisterschaft im kommenden Jahr. Ein Alptraum für die FIFA, die Sponsoren und natürlich auch für die politisch Verantwortlichen. Sie werden alle gebannt die Entwicklung beobachten. Denn für die gesamte kommende Woche sind zahlreiche weitere Demonstrationen angekündigt.

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